Die Fähigkeit, leiden zu können, schon im Training. Nach verletzungsbedingten Rückschlägen wieder aufzustehen und einen erneuten Anlauf zu nehmen, gehört zu jedem Sportlerleben. Vor allem im Skisport vergeht kaum eine Woche, ohne dass wieder ein Athlet oder eine Athletin sich eine Verletzung zuzieht und für längere Zeit ausfällt. In dieser Hinsicht ist Andrea Ellenberger eigentlich keine Ausnahme. Und doch ist ihre Geschichte ungewöhnlich, sehr sogar. Ihr Durchhaltewillen und Leidensfähigkeit übersteigen das übliche Mass um ein Vielfaches.
Schon mit drei Jahren stand sie auf den Ski, liebevoll gefördert von ihren Eltern. Als sie per Zufall ein Hallentraining des Skiclubs Hergiswil sah, war für sie klar: «Das will ich auch». Hergiswil, im Kanton Nidwalden, am Fusse des Pilatus, liegt in idealer Distanz zu mehreren bekannten Skiorten. Schnell stellten Betreuer und Trainer fest: das Mädchen hat Talent, riesig viel sogar. Sie fand Aufnahme im Juniorinnen-Kader des Kantons und dann der Zentralschweiz. Als Juniorin gewann sie unzählige Rennen. Der Aufstieg ins nationale Leistungszentrum war eine logische Folge. An der Sportmittelschule Engelberg, wo sie ihre Ausbildung 2012 mit der Matura abschloss, fand sie ideale Bedingungen vor.
Ein Beispiel für ihr Talent: An der JO-Schweizermeisterschaft 2008 belegte sie den 1. Platz im Super-G, den 2. Platz im Riesenslalom und den 3. Rang in der Abfahrt. Sie stand zusammen mit Fahrerinnen wie Wendy Holdener oder Michelle Gisin auf dem Podest. Auf diesem Level wäre sie wohl heute auch, wenn sie Verletzungen und Rückenprobleme nicht während Jahren massiv zurückgeworfen hätten. Hinzu kam der plötzliche und tragische Verlust ihres Trainers, den sie verkraften musste.
Bereits im Juniorinnen-Alter konnte sie ihr Potential nie richtig ausschöpfen, immer nur reduziert und dosiert trainieren. Die erste Verletzung zog sie sich bereits als Dreizehnjährige zu. Meniskusschäden im Knie, der Bruch eines Lendenwirbels und ein Kreuzbandriss verbunden mit einem Knorpelschaden warfen sie auch in den folgenden Jahren zurück. Aber aufgeben wollte sie nicht. Immerhin: Reduzierte Trainings waren möglich und auch immer mal wieder Einsätze im Europacup und an FIS-Rennen. Ganz schwierig wurde es dann jedoch 2012, als der Rücken nicht mehr mitmachte. Von da an war sie keinen Tag mehr schmerzfrei. An Trainings war über Monate nicht zu denken. Therapien, Medikamente und schmerzstillende Spritzen bestimmten den Alltag. Immerhin kam sie Ende 2013, Anfang 2014 zu vier Einsätzen im Weltcup.
Irgendwann war dann an wirklichen Leistungssport nicht mehr zu denken. Jetzt ging es nur noch darum, wieder gesund zu werden, ein schmerzfreies Leben führen zu können. 2017 liess sich Andrea Ellenberger am Rücken operieren. Der Arzt entfernte eine Bandscheibe und versteifte zwei Wirbel. Ob man mit einem versteiften Rücken überhaupt je wieder würde Skifahren können, wusste auch der behandelnde Arzt nicht. Darüber gibt es keine aussagekräftigen Studien. Aber, dass sie diese Frage überhaupt stellte, zeigt schon: Den Traum, wieder auf der Piste zu stehen und durch die Tore zu flitzen, hatte sie noch immer nicht aufgegeben. «Aufgeben» - dieses Wort hat Andrea Ellenberger offenbar nicht in ihren Sprachschatz aufgenommen.
Durch die lange Absenz fehlten ihr die notwendigen FIS-Punkte, weshalb sie keine Aufnahme mehr fand im Kader von Swiss Ski. Eine zusätzlich grosse Hürde baute sich auf. Keine finanzielle und logistische Unterstützung mehr durch den Verband. Wie will man sich unter solchen Umständen auf eigene Faust wieder an die Spitze zurückkämpfen? Mit Biss und einem unglaublichen Durchhaltewillen. Und mit Unterstützung durch ihren Freund und Trainer Silvan Epp, durch die Familie, Freunde und Gönner.
Immerhin, ihre Rückenprobleme besserten sich mit jedem Tag. 2018 konnte sie in Südamerika ein Sommertraining absolvieren und an Rennen teilnehmen, alles mit ihrem Freund und Trainer zusammen selber organisiert und finanziert. Bei Swiss Ski wurde man aufgrund ihrer Trainings- und Rennresultate darauf aufmerksam, dass da ein Talent auf dem Weg zurück war. Ein grosses Talent, dem niemand nach so langer Abwesenheit und angesichts der Leidensgeschichte ein Comeback je wieder zugetraut hätte.
Der Hammer kam dann in Herbst 2018. Diesmal im positiven Sinn. Andrea Ellenberger wurde nach vier Jahren erstmals wieder für den Weltcup aufgeboten, obwohl sie keinem nationalen Kader angehörte. In Sölden, ihrem ersten Rennen, nach der langen Pause, verpasste sie die Qualifikation für den zweiten Lauf deutlich. In Killington (November 2018) und in Courchevel (Dezember 2018) war sie jeweils als 32. schon nahe dran. In ihrem vierten Comeback-Rennen, in Semering, schaffte sie es am 28. Dezember 2018, auf Rang 22. Im Januar 2019 dann in Kronplatz fuhr sie als Elfte beinahe in die Top-Ten. Es ist das (vorläufige) Happy-End einer langen Leidensgeschichte. Für Andrea Ellenberger fühlt es sich an wie ein Traum, wie ein Märchen.
Aber dieses Märchen ist noch nicht zu Ende. Andrea Ellenberg bekam sogar das Aufgebot für die Ski-WM in Are. Von dort kehrte sie mit einer Gold-Medaille im Teamwettbewerb und einem zehnten Platz im Riesenslalom zurück. Und dies mit gerade mal fünf Weltcup-Rennen in den Beinen. Sie sagt von sich selbst, dass sie wohl nicht mehr allzu viele Chancen haben werde, um an die Weltspitze zurückzukehren. «Diese Chancen muss ich nutzen.» Das hat sie in Are gemacht. Oder wie die beiden TV-Kommentatoren meinten: «Sie hat geliefert und ihre Nomination bestätigt. Wir werden an ihr noch viel Freude haben.» Davon sind alle überzeugt, die Andrea Ellenbergers Talent und Durchhaltewillen kennen.
Text: Paul Felber